Premiere 18.03.2017 › Schauspielhaus

Medea (2017)

von Euripides
aus dem Griechischen von Simon Werle
Auf dem Bild: Darya Zaretskaya, Maja Helene Paulisch, Mathilda Kaufhold, Luise Fischer, Paula Dombrowski, Mira Fanny Weinhold, Hilde Alice Behrens, Anne Schneider
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Frida Reinhold, Mathilda Kaufhold, Alma Elisabeth Schied, Luise Fischer, Paula Dombrowski, Mira Fanny Weinhold, Hilde Alice Behrens, Rosa-Mathilde Muck
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Statisterie, Paula Dombrowski
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Statisterie, Paula Dombrowski
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Paula Dombrowski, Statisterie
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Paula Dombrowski, Statisterie
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Sebastian Wendelin, Paula Dombrowski
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Benjamin Pauquet, Mathilda Kaufhold, Julius Schneider, Sebastian Wendelin, Konrad Neidhardt, Paula Dombrowski, Mira Fanny Weinhold, Hilde Alice Behrens
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Benjamin Pauquet, Mathilda Kaufhold, Valentin Flach, Sebastian Wendelin, Paul Netzschwitz, Paula Dombrowski, Mira Fanny Weinhold, Hilde Alice Behrens
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Paula Dombrowski
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Mathilda Kaufhold, Paula Dombrowski, Benjamin Pauquet
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Mathilda Kaufhold, Julius Schneider, Benjamin Pauquet, Sebastian Wendelin, Paula Dombrowski, Mira Fanny Weinhold, Hilde Alice Behrens
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Sebastian Wendelin, Darya Zaretskaya, Luise Fischer, Anna-Luisa Börner, Paul Netzschwitz, Paula Dombrowski, Valentin Flach
Foto: Matthias Horn

Handlung

Die Tragödie beginnt in Korinth, wo Medea und Jason mit ihren Kindern vorläufiger Aufenthalt gewährt wird. Die Familie ist auf der Flucht. Für ein Leben mit Jason hat Medea ihren Vater verraten, ihren Bruder getötet und ihre Heimat aufgegeben. In Korinth wird sie von Jason verlassen für die Tochter des dortigen Königs Kreon. Medea droht die Verbannung, sie ist zur unerwünschten und rechtlosen Fremden in einer von ­Männern dominierten Welt geworden. Zutiefst verletzt von Jasons Verrat und gedemütigt von seiner Treulosigkeit, sinnt Medea auf Vergeltung und beschließt, nicht nur ihre Nebenbuhlerin und deren Vater, sondern auch die gemeinsamen Kinder zu töten.
Vor über 2400 Jahren entwarf Euripides seine Fassung der Medea, die seitdem in zahlreichen Variationen und Bearbeitungen die europäische und außereuropäische Kultur- und Geistesgeschichte beeinflusst und beunruhigt hat.
Der Mythos Medea lebt von seiner Widersprüchlichkeit. Medea ist ­Königstochter und Ausgestoßene, göttlicher Herkunft und schutzbedürftig in der Fremde, sie besitzt heilende Kräfte und ist ­besessen von Rachgier, klug und unbeherrscht, sie liebt voller Hingabe und tötet schließlich, was sie liebt. Die Tragödie zeigt den Kampf einer stolzen Frau um ihre Existenz und ihre Würde und die grausame Rache einer Liebenden, die zur Fremden gemacht wird.

Besetzung

Regie
Christina Rast
Bühne
Franziska Rast
Kostüme
Marysol del Castillo
Musik
Jarii van Gohl, Felix Müller
Choreografie
Dramaturgie
Medea
Paula Dombrowski
Jason /  Chor
Sebastian Wendelin
Kreon / Chor
Benjamin Pauquet
Aigeus / Chor
Sascha Göpel
Chor
Jarii van Gohl, Felix Müller

Video

Anmerkungen zur Medea

Fremde Frau Mutter

Anmerkungen zur Medea des Euripides
Die Medea des Euripides nimmt ihren Anfang in Ahnungen, Gerüchten und Spekulationen. Vor Medeas Behausung stehen Bedienstete und Frauen aus Korinth und rätseln über das Wesen im Inneren. Die Gemeinschaft macht sich ein Bild von der fremden Frau, die ­sich in ihrer Zufluchtsstätte verborgen hält, und dieses Bild wird dunkler je länger über sie geredet wird, Medeas Absichten sind nicht einzusehen. Wie diese Gemeinschaft schauen auch die Zuschauer am Anfang auf einen Vorhang und vermuten dahinter eine entfernte Bekannte und sehen ihre Vorahnungen gespiegelt. Die Fremde ist Versprechen und Bedrohung, der Chor der einheimischen Frauen adressiert sie mit Vorsicht, mit Ermahnungen und Gemeinplätzen, auf die man sich zu einigen hofft. Die Widerspenstige soll gezähmt werden, schon bevor sie er­schienen ist, ein Gespenst wird beschworen, „die hadernde, schwer zu versöhnende / von Leiden zermarterte Seele“ (in der Übersetzung von ­Simon Werle), „die aufgebrachte, nicht zu beruhigende/in tiefster Seele gekränkte Frau“ (in der Übersetzung von Peter Krumme). Die Götter werden angerufen, antike Ideale aufgerufen, und die Allgemeinheit rät zur Anpassung: „Übermaß bewirkt den Menschen kein Glück.“ Aber wir befinden uns am Beginn einer Tragödie, Glück ist nicht zu erwarten. Mit dem Chor sind die Zuschauer auf der Seite der distanzierten Beobachter, der untätigen Voyeure, mit Angstlust erwarten sie das Unglück und die kommenden Kämpfe.
Bevor Medea zu sehen ist, ist sie zu hören aus dem Inneren des Hauses, und ihr Ruf ist wortlos im Anfang. „Io, ich Unselige in meinen Qualen, Io! Ach, könnte ich doch sterben“, formt sich aus den tierischen Lauten eine erste Selbstbestimmung. Bevor wir Medea sehen, will sie schon verschwinden. Sie beginnt mit einem Sterbewunsch, der Sterbewunsch bleibt unerfüllt, und die Wunschenergie wird nach alternativen Manifestationen suchen. „Träte sie doch nur vor unser Angesicht und vernähme den Klang der gesprochenen Worte“, bittet der Chor im Vertrauen auf die beruhigende Wirkung der Kommunikation. Dass Medea sich verborgen hält, macht sie unheimlich. Das Netz des Geschwätzes bindet die Leidenschaft, das Gespräch soll sie still stellen.
Aber seit über 2000 Jahren gibt Medea keine Ruhe. In über 300 Bearbeitungen in Oper, Film, Gedicht und Drama formt sie ihre Klage neu gegen ein Unrecht, das nicht endet, und über eine Schuld, die nicht vergeht. Verrat, Ausbeutung, Frauenverachtung, Fremdenfeindlichkeit und Anpassungsdruck wirken weiter, das Gerechtigkeitsverlangen bleibt ungestillt. Der Mythos Medea wird nicht aufgeklärt durch soziologische, psychologische oder kulturhistorische Erläuterungen, Medeas Wesen bleibt vieldeutig, ihre Herkunft widersprüchlich, ihre Taten bleiben ungeheuer. (1)
Medea geht ein Ruf voraus, als sie nach Korinth kommt, und sie trägt schwer an ihrer Vorgeschichte. Auch vor Euripides schon ist Medea die Alchemistin aus Barbarenland, Priesterin der Hekate, der Göttin der Zwischenwelt, der Magie und der Übergänge, die Königstochter aus Kolchis, die ihren Vater verraten und ihren Bruder getötet hat, um Jason beizustehen auf seinem Weg zum Helden. Der Autor ­Euripides hat den Mythos Medea nicht erfunden – ein Mythos hat ­keinen Urheber – aber erst in seiner Fassung ist sie zur Mörderin an den eigenen Kindern geworden. Ein Gerücht besagt, dass Euripides bezahlt worden sei, damit er Medea den Mord anlaste, den in vorherigen Variationen die Korinther selbst begangen haben. Moderne Autorinnen wie Christa Wolf, Ursula Haas und Helga M. Novak haben gegen diese Schuldzuweisung polemisiert und sie zum Ausgangspunkt ihrer Neubearbeitungen des Mythos genommen. (2)

„Medea du Schöne dreh dich nicht um
vierzig Talente hat er dafür erhalten
von der Stadt Korinth
der Lohnschreiber der
daß er dir den Kindermord unterjubelt
ich rede von Euripides verstehst du
seitdem jagen sie dich durch unsere Literaturen
als Mörderin Furie Ungeheuer
dabei hätte ich dich gut verstanden
wer nichts am Bein hat
kann besser laufen
aber ich sehe einfach nicht ein
daß eine schuldbeladene Gemeinde
ihre blutigen Hände an deinen Röcken abwischt“
(Helga M. Novak, Brief an Medea)

Vorgeschichte
Der Mythos der Medea stammt aus der Zeit der Kolonisierung der ­Länder um das Schwarze Meer durch griechische Städte und Gemeinschaften um 800 v. Chr. In der Argonautensage gelangt der griechische Königssohn Jason mit seinen Gefährten nach Kolchis (das heutige Georgien), um das Goldene Vlies zu rauben, das sich im Besitz von König Aietes befindet. Medea ist die Tochter des Aietes, Enkelin des Sonnengottes Helios und verliebt sich in Jason. Nur mit Medeas Hilfe kommt Jason zum Ziel, durch sie wird er zum erfolgreichen Eroberer. Sie verrät ihm die Pläne ihres Vaters und setzt ihre Zauberkünste ein, um den Drachen zu besiegen, der das Goldene Vlies bewacht. Nachdem ihr Jason geschworen hat, sie mit nach Griechenland zu nehmen und zu seiner Frau zu machen, flieht Medea mit den Argonauten. Um den Vater von Verfolgung abzuhalten, tötet sie den eigenen Bruder. Später beseitigt sie auch Jasons Onkel Pelias, der dessen Thron in Jolkos usurpiert hat. Jason und Medea finden in Korinth Asyl. Medea gebiert Jason Kinder (bei Parmeniskos vierzehn, bei Euripides zwei). Einige Jahre später erfährt sie, dass Jason sich neu verheiraten will mit Glauke, der Tochter des heimischen Königs Kreon.
Hier setzt die Tragödie bei Euripides ein. Hier treten die ­Bediensteten und Frauen aus Korinth vor und berichten, was sie wissen von der geheimnisvollen Frau. Als Medea das erste Mal auftritt und sichtbar wird, zeigt sie sich gefasst: „Ich bin aus dem Haus gekommen, ihr Frauen von Korinth/damit ihr mich nicht tadelt. Denn ich weiß ja, viele Menschen/sind voller Hochmut; die einen fern den Blicken/die andern öffentlich; und wieder andere stehen/durch stillen Rückzug in dem üblen Ruf, sie seien teilnahmslos.“ Medea nimmt also teil, um ihren Ruf zu bessern, sie teilt sich mit. Ihr beherrschtes Auftreten, ihre Selbst- und Fremdwahrnehmung und ihre rationale Argumentation stehen im Widerspruch zum Bild der wilden, unbeherrschten Fremden. Medea bei Euripides kann noch ihre Verzweiflung und ihre Rachsucht reflektieren, die Gründe erörtern und das Ungeheure planen. Der Chor bleibt dauerhaft anwesend und macht ihr Handeln und Sprechen sogar in den intimen Dialogen zu einem öffentlichen Akt. Privatsphäre gibt es auf dieser Bühne nicht.
Medea nutzt ihren ersten Auftritt für einen Aufruf zur Solidarität unter Frauen: „Von allem, was beseelt ist und Vernunft besitzt / sind doch wir Frauen das unseligste Geschlecht.“ Die Frau ist dem Mann unterworfen, ökonomisch und juristisch abhängig vom Ehebund und hat keine Möglichkeit zu prozessieren, wenn sie verlassen wird. In der Polis des Aufführungsortes Athen sind Frauen, Sklaven und Barbaren ausgeschlossen von politischen Versammlungen und auch von der Beteiligung am Bühnengeschehen, Männer in Masken stellen sämtliche Figuren dar.
Der Chor stimmt in Medeas Klage ein und rät ihr doch zur Mäßigung. Für die Gerechtigkeit sind die Götter zuständig. Beständig fordern die korinthischen Frauen Medea auf, es ihnen gleichzutun, sich zu be­herrschen und beherrschen zu lassen, Teil zu werden der Gemeinschaft der randständigen Anständigen. Aber gleich wird Medea den korinthischen Frauen niemals werden, denn sie ist „allein, heimatlos und aus Barbarenland geraubt“. Es gilt für die Schutzsuchende damals wie für zahllose Schutzsuchende nach ihr: „Erst im Unglück erkennt sie / was es heißt, kein Vaterland mehr zu besitzen.“

Kreon
Drei Männer, Könige, Helden treten im Folgenden auf, sprechen vor, spiegeln die schillernde Frau und dienen ihr als Beispiele der herrschenden Verhältnisse, an denen ihr Hass sich entzündet. Als Erster tritt der heimische König in Medeas Raum, der zu seinem Reich gehört. Kreon ist der Gastgeber, der das Gastrecht ihr entziehen will. Aber auch er weiß, dass Medea über Kräfte verfügt, die seiner weltlichen Herrschaft gefährlich werden können. Medea hat schon einen König töten lassen mit ihrem Zauber und durch ihre List.
„Du da“, adressiert er die fremde Priesterin, als läge schon in ihrem Namen Verderben verborgen, „die du so finster blickst.“ Er behandelt Medea wie eine ansteckende Krankheit, wie Aussatz spuckt er sie mit seinen Worten an. Sein Verbannungsbefehl ist die Operation, um das Land und seine Familie vor der Infektionsgefahr zu schützen, die Medea für ihn darstellt: „Ich fürchte, meiner Tochter tust du etwas Böses an, das nicht zu heilen ist.“
Wieder ist es der vorauseilende Ruf, der Medea schadet. Medea ist zu klug für ihn, auch wenn sie umgehend das Gegenteil zu beweisen sucht. Sie sinnt auf Rache, davon hat Kreon gehört, und sie kennt die bösen Künste, unter anderem auch die Kunst der Verstellung. Das beweist sie, indem sie vorgibt, sich den neuen Verhältnissen anpassen zu wollen: „Auch wenn ich Unrecht litt / füg ich mich still, wo Stärkere siegen.“ Medea schmeichelt dem eitlen Herrscher, sie unterwirft sich und wirbt um sein Verständnis. Medea kann spielen, sie verfügt über Umgangsformen, verführerische Tonfälle und Spielweisen der Selbstbeherrschung. Im Namen ihrer Söhne bittet sie um den einen Tag Aufschub, an dessen Ende alle Kinder vernichtet sein werden. Auch dafür wird später eine Rechtfertigung formuliert, die erst im Rückblick ihre volle Grausamkeit entfaltet: „Die Kinderlosen sind ... von vielerlei Nöten befreit.“
Die Furcht vor Medeas Zauber und ihr Appell an seine väterlichen Regungen bewegen Kreon zu dem Zugeständnis, dass er ihr noch Aufenthalt gewährt in seinem Reich. Medea hat den Politiker als Privatmann angesprochen. Er kommt als Autokrat und verlässt die Szene als Verführter. Sobald er außer Hörweite ist, verhöhnt sie den wankelmütigen Herrscher mit Spott und Flüchen und eröffnet dem Chor ihre tatsächlichen Pläne: „Geh bis zum Äußersten! Du siehst, was man dir antut!“

Jason
Auch Jason beginnt seinen Auftritt vor seiner ehemaligen Geliebten Medea nicht mit einer Begrüßung, sondern mit einer verallgemeinerten Erkenntnis: „Nicht jetzt erst, sondern oft schon habe ich erkannt / Was für ein zerstörerisches Übel ist ein nachtragendes Wesen!“ Medea ist ihm das nachtragende Wesen. Während er sich neu einrichten will in Korinth, trägt sie ihm ihre gemeinsame Geschichte nach. Jason ist zum Helden geworden nur mit Medeas Hilfe. Medea erinnert ihn an seine Bedürftigkeit, das kann er ihr schwer verzeihen. Ihr Wissen, ihre Zauberkunst, ihre Liebe und die Schätze ihres Landes hat sie ihm gegeben. Für ihn ist sie zur Verräterin an der Heimat und der Familie geworden. Er verübelt ihr, sie gebraucht zu haben. Er will sich distanzieren von ihrem nachtragenden Wesen. Jason steht in ihrer Schuld. Medeas Dienstleistungen rechnet er auf mit den kulturellen Errungenschaften der neuen Umgebung. Ihre Liebe ersetzt er durch eine Tauschbeziehung und preist seine Gegenleistung:

„Wie immer du geholfen hast, so ist es gut.
Indessen hast du, wie ich dir beweisen will, Größres empfangen,
als du es mir durch meine Rettung gabst.
Als erstes dies: du wohnst statt bei Barbaren jetzt
in Griechenland und kennst das Recht, den Schutz
unsrer Gesetze statt der Herrschaft der Gewalt.
Dann lernten alle Griechen deine Klugheit kennen,
und so kamst du zu Ruhm. Würdest du immer noch
am Ende dieser Erde wohnen – kein Hahn krähte nach dir.“

Diese kühle Abrechnung Jasons und seine nachträgliche Ökonomisierung ihres Begehrens bestärken Medea in ihrem Vernichtungsplan gegen das königliche Haus und seine Sippe. Der ehemalige Held preist den Segen der Nützlichkeit und rät der Wilden, sich abzufinden in der Unterordnung. Leidenschaft ersetzt Jason durch Komfort, die Kämpfe dienen bloß der Ruhmsucht. Aber Medea lässt sich nicht korrumpieren von den Aussichten auf eine demütigende Duldung in geregelten Verhältnissen. Sie will „kein frohes Leben voller Qual und keinen Wohlstand, der mein Herz zerreißt“ und „was ein Schurke gibt, kann keinen Nutzen bringen.“
Durch die Heirat mit der korinthischen Königstochter wird Jason vom Flüchtling zum Thronfolger, vom Eroberer zum Diplomaten. Als Unternehmer hat Jason Frau und Gold und Ruhm aus der Fremde importiert und bemisst deren Wert neu in der korinthischen Zivilisation. Sogar die gemeinsamen Kinder macht er zum Gegenstand seiner Kalkulation, denn sie werden zu Königssöhnen, ist Jason erst an der Macht. Das nachtragende Wesen Medeas, das ihm in der Gefahr geholfen hat, wird eine lästige Erinnerung an vergangene Zeiten. „Zum Leiden bin ich nicht mehr jung genug“ begründet Jason bei Jean Anouilh seinen Abschied von Medea und seinen Eintritt in den Ruhestand. „Sinnlos umschlungen von diesem Feigling“ findet Medea sich und ­ihren Körper im Rückblick auf die gemeinsame Heldenreise.
Aigeus
Aigeus ist der letzte und schwächste Herrscher, der Medeas Bühne betritt. Er kommt vom Orakel, das er wegen seiner Kinderlosigkeit befragt hat. Er dient Medea als Beispiel dafür, was die Kinderlosigkeit aus einem Herrscher macht. An ihm kann Medea studieren, welche Verzweiflung die von ihr geplante Tat auch bei ihrem Mann wird in Gang setzen können. Seine Welt geht zugrunde, weil er keine Nachkommen hat. Erst nach dieser Begegnung kommt Medea in den Sinn, ihre eigenen Kinder gegen die männliche Vorherrschaft einzusetzen.
Bei Aigeus reicht schon Medeas Versprechen, dass sie ein Mittel ­wisse, seine Kinderlosigkeit zu beenden, um diesem die weitreichende Zusage zu entlocken, dass er ihr Asyl gewährt. Der mächtige König von Athen wird zum bloßen Funktionsträger in ihrem Plan. Der letzte Mann ist ein Schwächling in verzweifelter Abhängigkeit von der Frau, die ihm Nachkommen schenkt. Ihn braucht sie zur Absicherung, dass auch nach der grausamsten Tat noch ein Zufluchtsort ihr offen steht und ein Neuanfang möglich bleibt. Der Dialog mit Aigeus ist eine Vertragsverhandlung, noch der Schwur und die Bedingungen ihrer Flucht müssen geregelt werden. Grußlos wird das Geschäft beendet. In anderen Fassungen des Mythos wird Medea selbst später zur Mutter werden von Aigeus’ Sohn.

Der Kindermord
Euripides’ Medea hat eine erstaunliche Karriere genommen. Beim ­Dichterwettstreit im Rahmen der Dionysien im Jahre 431 v. Chr. belegte Euripides mit seiner Tragödie den letzten Platz. Aristoteles verurteilte das Stück in seiner Poetik ausdrücklich wegen der Unwahrscheinlichkeit seiner Wendungen und nennt als Beispiel den Auftritt des Aigeus und den Eingriff des rettenden Gottes am Ende. Euripides stand schon zu seiner Zeit im Ruf, ein Frauenverächter zu sein, und seine Fassung der Medea wird bis in die Gegenwart infrage gestellt und vor allem aus feministischer Perspektive kritisiert und umgeschrieben. Und trotzdem oder gerade deshalb ist Medea zu dem berühmtesten und folgenreichsten Stück des Autors geworden. Und es ist vor allem der Kindermord, der den Nachruhm Medeas begründet, auch weil ihre Motivationen und ihre Logik nicht fest zu fassen scheinen. Der dunkle Grund ihrer Tat macht den Text anschlussfähig für Bearbeitungen und attraktiv für Interpretationen.
„Wäre Medea vorrangig als Halbgöttin verstanden, ließe sich der Kindermord als göttliche Vergeltung für menschlichen Frevel begreifen; hätten wir dagegen in Medea vor allem die Barbarin zu sehen, könnte der Konflikt aus dem Gegensatz von barbarischer Herkunft und hellenischer Lebenswelt resultieren und das Stück dem Nachweis dienen, daß dem ungebärdigen Barbarentum gegenüber selbst der Einfluß der zivilisierten Welt wirkungslos bleibt. Beinahe Fanalcharakter dagegen würden Kindermord und Konflikt erhalten, wenn Medea als Frau verstanden wäre, die sich ‚eine unter Millionen im Namen der Götter erhebt, um ihr Geschlecht zu rächen‘ (Melchinger). Es entsteht der Eindruck, als gehe es Euripides in seiner Medea weniger um ein grundsätzliches Aufbegehren der Frau gegen ihre soziale Rolle als speziell um Medeas Anspruch auf heldische Achtung und Selbstverwirklichung. Tat und Konflikt könnten so als zwangsläufige Folgen eines verwegenen Vorhabens erscheinen, als Frau nach heldischen, also männlichen Normen handeln zu wollen.“ (3)
Mit Gewalt wehrt sich Medea gegen ihre Zurichtungen als Fremde, Frau und Mutter. Sie kann sich nicht abfinden mit der ihr zugewiesenen Rolle. Medea will keine Frau mehr sein, wenn die Frau sich zu fügen hat. Sie will keine Mutter mehr sein, weil die Kinder sie binden an Jason, sie erinnern sie auch an ihren eigenen Verrat der väterlichen Familie. Medea straft Jason, aber auch sich selbst für ihre Verbindung. Die Kinder binden die Mutter an diese Welt, die ihr nicht lebenswert erscheint. Die Kinder erinnern die Mutter an ihre Natur, die sie überwinden will. Dass sie sich fremder Herrschaft unterwerfen muss, radikalisiert sie als stolze Außenseiterin. Das Bild der integrationsunwilligen Barbarin bestätigt Medea in gewaltsamer Überhöhung, indem sie ihre Verbindung zur griechischen Zivilisation und zugleich die männliche Genealogie des Argonautenführers auslöscht, indem sie seine Nachkommen tötet.
„Für Medea sind sie Jasons Kinder. Ja, noch mehr, sie sind Jason selbst. Sie tötet sie nicht nur, um sich an ihm zu rächen, sondern auch, weil sie Jason nicht töten kann; in ihnen tötet sie Jason. Aber im Grunde existiert sogar Jason nicht für sie. Nur sie existiert; sie und ihre Niederlage. Sie ist in ihrem Unglück eingesperrt wie in einem Ei. Medeas wahnsinnige Monomanie entstammt zweifellos Euripides’ Einsicht. Sie macht die Tragödie psychologisch vollständig; sie macht die Tragödie möglich. Die Monomanie hebt Medea heraus, trennt und schneidet sie ab von der realen Welt. Durch ihre Monomanie ist Medea allein. Helden der Tragödie müssen allein sein.“ (4)
Bei der Verfertigung und Behauptung starker Thesen wird oft unterschlagen, dass Medea bei Euripides eine zweifelnde, sprunghafte und zerrissene Figur ist, die sich der Eindeutigkeit verweigert und hadert mit ihren Entscheidungen. Sie selbst beklagt das Los ihrer geliebten Kinder und zweifelt, ob es ihr möglich sein wird, sie zu töten. Zu diesem Zeitpunkt sind die beiden Söhne bereits auf dem Weg zur Tochter des Königs, um ihr das goldene, vergiftete Geschenk zu bringen, das den König und dessen Tochter schließlich zugrunde richten wird. Die Goldgier und die Eitelkeit treiben Glauke in ihren qualvollen Tod, ausführlich berichtet ein Bote davon. Für die Kinder der Königsmörderin aber gibt es danach keine unbeschwerte Zukunft mehr, und Medea rechtfertigt sich, sie schützen zu müssen vor der lebensfeindlichen Welt. Sie wird zum Opfer ihres eigenen Plans, als er nicht mehr rückgängig zu machen ist.
Medea sucht nach Erklärungen für ihre Tat, um nicht an ihr verzweifeln zu müssen, sie verklärt sie zur schützenden, rächenden und erlösenden Tat in ihren Reden. Sie redet sich die Folgerichtigkeit ihrer Taten ein und nimmt das Leiden auf sich, als strafte sie die Welt: „Geh bis zur Grenze, ab der das Leben nur noch schmerzt!“ Die Beweggründe, mit denen sie ihren Monolog des Zweifels beendet, folgen einer männlich tradierten Heldenlogik: Stärke, Tatkraft, Stolz und Nachruhm. Hier zeigt sich Medea wie schon bei ihrem ersten Auftritt als eine Figur, die bewusst in der und für die Öffentlichkeit agiert als Gegenteil der Erwartung.

„Niemand soll mich für schwach und hilflos halten
oder für tatenlos, denn ich bin das Gegenteil:
den Feinden schrecklich und den Freunden zugetan.
Und wer so lebt, gewinnt den höchsten Ruhm.“

Das extreme Gegenteil von tatenlos ist die widersinnige oder amoralische Tat, die schrecklich ist, weil sie unerklärlich bleibt. Dass sie den höchsten Ruhm verspricht, haben die Jahrtausende bewiesen.
Euripides’ Medea ist eine Rachephantasie, die maßlos die Bühne erobert, auch damit der Chor ein abschreckendes Beispiel vor Augen hat, mit dem er seinen Lobpreis der Mäßigung belegen kann. Sie zeichnet das Horrorbild aggressiver Weiblichkeit, „Imago der verfolgenden, kastrierenden und verschlingenden bösen Mutter, die Leben schenkt und nimmt.“ (5) Medea entspringt der Schauderlust der herrschenden Männer, denen das Produkt ihrer Ausbeutung und ihrer Unterdrückung vorgeführt wird, das sie nicht mehr beherrschen können.

„Was Heimat hieß jetzt hinter uns mein Ausland
Daß es nicht Heimat wird euch mir zum Hohn
Mit diesen meinen Menschenhänden Ach
Wär ich das Tier geblieben das Ich war
Eh mich ein Mann zu seiner Frau gemacht hat
Medea die Barbarin jetzt verschmäht
Mit diesen meinen Händen der Barbarin
Händen zerlaugt zerstickt zerschunden vielmal
Will ich die Menschheit in zwei Stücke brechen
Und wohnen in der leeren Mitte Ich
Kein Weib kein Mann ...“
(Heiner Müller, Medeamaterial)

Medea verkörpert die Ambivalenz radikaler Autonomie. Ihr Auf- und Ausbruch spiegelt gewaltsam Gewalt. Medeas Unort, ihre Utopie eröffnet sich in einem autodestruktiven Akt: „Sie hat sich befreit, aber auch zerstört ... große Wut, großer Mut der Frau in dreifachem Elend – als Frau, als Mutter, als ausgewiesene Asylantin, aber eben sich erschöpfend in einem anarchischen Akt der Selbstbefreiung.“ (6)
Dass Medea bei Euripides schließlich gerettet wird mit göttlicher Unterstützung, ist als Auszeichnung gedeutet worden, die ihr das Recht zugesteht, sich in dieser Weise zur Wehr zu setzen. Sie triumphiert über die nachträglichen Abrechnungen des kläglichen Jason, und der Drachenwagen des Sonnengottes enthebt sie der weltlichen Zustände. „Medea kehrte in die mythische Gloriole zurück, aus der sie der Dichter auf die Erde der Gegenwart heruntergeholt hatte. Da habt ihr sie, scheint er seinen Zuschauern zuzurufen, wie ihr sie haben wollt; so habt ihr sie euch doch vorgestellt, als ihr ins Theater kamt: eine Furie, eine Zauberin, eine Übermenschin, halb Hexe, halb Dämon; alles, was ich euch gezeigt habe, war Schein, Spiel – hier habt ihr eure Wahrheit.“ (7)

Nachgeschichte
Der Mythos lebt in und durch seine Bearbeitungen, die Arbeit am Mythos macht den Mythos aus. Es gibt keinen verbindlichen Urtext, auch der griechische Götterglaube ist nicht zum Dogma geworden. „Die Faszination des Mythos war gerade, dass er nur gespielt, durchgespielt, nur momentan geglaubt zu werden brauchte, aber nicht zur Norm oder zum Bekenntnis wurde.“ (8) Die Tragödie ist auch Kritik des Mythos, Euripides’ Medea beschränkt den Einfluss der Götter und betont die Verantwortung menschlichen Handelns. Wenn Jason die Liebesgöttin verantwortlich macht für Medeas Handeln, wird der Götterglaube durchschaubar auf seine Entlastungsfunktion. Schuld haben sowohl Medea als auch Jason schon auf sich geladen, bevor sie in das Drama eintreten. Aber allen Figuren eröffnen sich im Folgenden Spielräume und Handlungsoptionen, Asylbedingungen und Eheverträge der Zeit werden konkret benannt und kritisiert. Die Fragen von Verrat, Anpassung, Macht und Ausgrenzung stellen sich in veränderten politischen Verhältnissen immer wieder neu. (9) Und Medea sucht wiederholt die Bühnen der Gegenwart heim und reißt das Bild einer gerecht geordneten Welt auf und hinterlässt eine Leerstelle, ihr Schrecken geistert weiter durch die Geschichte.

„Da hören wir mit einem mal
Jetzt die Rede gehn
Es würden in unseren Städten
Von neuem Medeen gesehn.
Zwischen Tram und Auto und Hochbahn
Wird das alte Geschrei geschrien
1934
In unserer Stadt Berlin.“
(Bertolt Brecht, Die Medea von Lodz)

Die Nachgeschichten der Protagonisten werden bei Euripides nicht mehr erzählt, die weiteren Teile seiner Tetralogie sind nicht überliefert. In der Argonautensage stirbt Jason, erschlagen von Bauteilen der Argo, auf der die Helden auf Beutezug ins Land Medeas fuhren. „Daß das Vehikel der Kolonisierung den Kolonisator erschlägt, deutet auf ihr Ende voraus. Das ist die Drohung des Endes, vor dem wir stehen. Das Ende des Wachstums“, hat Heiner Müller diesen Unfall gedeutet. (10) Medea ist göttlicher Abstammung, bei Euripides entkommt sie auf dem Drachenwagen des Sonnengottes Helios. Ihre Transformationen sind vielfältig, ihr Ruf hallt weiterhin durch öffentliche Räume, von ihrem Ende ist nichts ­bekannt.

Martin Heckmanns


(1) Inge Stephan, Medea. Multimediale Karriere einer mythologischen Figur, Köln 2006.
(2) Barbara Feichtinger: Medea – Rehabilitation einer Kindsmörderin? Zur Medea-Rezeption moderner deutschsprachiger Autorinnen. In: Grazer Beiträge 1992.
(3) Jens-Uwe Schmidt: Der Kindermord der fremden Kolcherin – ein tragischer Konflikt?
(4) In: Rheinisches Museum für Philologie 1999.Jan Kott, Medea in Pescara, in: (ders.), Spektakel – Spektakel. Tendenzen des modernen Welttheaters, München 1972.
(5) Roxana Hidalgo: Die Medea des Euripides. Zur Psychoanalyse der weiblichen Aggression und Autonomie, Psychosozial-Verlag, Gießen 2002.
(6) Ernst Schuhmacher, Medea – Frau im Elend, in: Maske und Kothurn 1994.
(7) Siegfried Melchinger, Euripides, Velber 1967.
(8) Hans Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos.
(8) In: Poetik und Hermeneutik. Bd. 5: Terror und Spiel, München 1971.
(9) Thomas Hödl, Antike Asylproblematiken. Euripides’ Flüchtlingsfiguren im aktuellen Kontext, in: Birgit Peter, Flucht – Migration – Theater, Mainz 2017.
(10) Heiner Müller, „Deutschland spielt noch immer die Nibelungen“. Spiegel-Gespräch, in: Der Spiegel 19/1983.