Premiere 11.02.2018
› Schauspielhaus
Das große Heft
nach dem Roman von Ágota Kristóf
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer
in einer Fassung von Ulrich Rasche und Alexander Weise
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer
in einer Fassung von Ulrich Rasche und Alexander Weise
Handlung
Sie sind Zwillinge. Sie kommen aus der großen Stadt, die bombardiert wird. Jetzt sollen sie bei der Großmutter bis zum Ende des Krieges bleiben.
Einer verrohten Welt im Krieg begegnen die Zwillinge mit Härte. Fernab von der Schule bringen sie sich selbst bei, was sie fürs Überleben brauchen: Sie härten ihre Körper mit Schlägen ab, den Geist mit Schimpfworten – in beiden Fällen mit dem Ziel unempfindlich alles auszuhalten, nicht zu weinen, psychische wie physische Schmerzen nicht mehr wahrzunehmen. Sie betteln, hungern, schlachten, stehlen, töten, stellen sich taub, blind, üben sich in Bewegungslosigkeit. Sie beobachten ihre Umwelt, machen sich Schwachstellen zunutze und setzen an anderer Stelle ihr Wissen mit Kalkül ein. Sie passen sich dieser vom Krieg geprägten Gesellschaft auf ihre Art an, lernen sich zu wehren und entwickeln ihre ganz eigenen Moralvorstellungen. Das Bild einer wohlbehüteten Kindheit lassen sie dabei weit hinter sich und werden zu erbarmungslosen jungen Erwachsenen, die über Leichen gehen. Ihre gewonnenen Erkenntnisse und Wahrheiten tragen sie in das Große Heft ein. So entsteht eine Aufsatzsammlung, die die Übungen und Entwicklung der Zwillinge in schonungslosen kurzen Sätzen ohne Schnörkel oder Gefühlsduselei dokumentiert.
Ágota Kristóf schildert in ihrem 1987 erschienenen Debutroman die Lebensgeschichte zweier Brüder, bei der Realität, Fiktion und Lüge nah beieinander liegen. Der Roman DAS GROSSE HEFT wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt und zum Livre Européen gekürt.
Einer verrohten Welt im Krieg begegnen die Zwillinge mit Härte. Fernab von der Schule bringen sie sich selbst bei, was sie fürs Überleben brauchen: Sie härten ihre Körper mit Schlägen ab, den Geist mit Schimpfworten – in beiden Fällen mit dem Ziel unempfindlich alles auszuhalten, nicht zu weinen, psychische wie physische Schmerzen nicht mehr wahrzunehmen. Sie betteln, hungern, schlachten, stehlen, töten, stellen sich taub, blind, üben sich in Bewegungslosigkeit. Sie beobachten ihre Umwelt, machen sich Schwachstellen zunutze und setzen an anderer Stelle ihr Wissen mit Kalkül ein. Sie passen sich dieser vom Krieg geprägten Gesellschaft auf ihre Art an, lernen sich zu wehren und entwickeln ihre ganz eigenen Moralvorstellungen. Das Bild einer wohlbehüteten Kindheit lassen sie dabei weit hinter sich und werden zu erbarmungslosen jungen Erwachsenen, die über Leichen gehen. Ihre gewonnenen Erkenntnisse und Wahrheiten tragen sie in das Große Heft ein. So entsteht eine Aufsatzsammlung, die die Übungen und Entwicklung der Zwillinge in schonungslosen kurzen Sätzen ohne Schnörkel oder Gefühlsduselei dokumentiert.
Ágota Kristóf schildert in ihrem 1987 erschienenen Debutroman die Lebensgeschichte zweier Brüder, bei der Realität, Fiktion und Lüge nah beieinander liegen. Der Roman DAS GROSSE HEFT wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt und zum Livre Européen gekürt.
Dauer der Aufführung: 3 Stunden, 40 Minuten.
Eine Pause.
Eine Pause.
Besetzung
Regie und Bühne
Bühnenbildmitarbeit
Kostüme und Bühnenbildmitarbeit
Chorleitung
Komposition
Video
Samples, Sound-Art
Nico van Wersch
Licht
Dramaturgie
Musiker*innen
Drums
Heiko Jung
Cello
Christoph Uschner
Violine
Kseniya Trusava
E-Bass
Slowey Thomsen
Video
Nächste Termine
Ganz anders sieht das in Ulrich Rasches Inszenierung am Staatsschauspiel Dresden aus. Dessen gewohnt individualpsycholigiefreie Chor- und, ganz buchstäblich, Bigger-than-Life-Ästhetik ist tatsächlich geradezu idealtypisch in der Lage, diesen Text in mindestens werktreuem (Be-)Deutungsumfang auf die Bühne zu transportieren; wahrscheinlich sogar – rarer Theaterglücksfall – noch ein bisschen mehr. Rasches Inszenierungsoberfläche gestaltet sich dabei wie gehabt: Was in den ‚Räubern‘ vom Münchner Residenztheater die Laufbänder waren, sind im Dresdner Großen Haus zwei riesige, in unterschiedlichen Konstellationen, Schrägstellungsgraden und relationalen Positionen nebeneinander rotierende Drehscheiben. Darauf marschieren abendfüllend – und das heißt in diesem Fall: 200 Minuten – minimal zwei, maximal sechzehn junge Männer und pressen, keuchen, schleudern im taktgebenden Gleichschritt wie –klang den Text aus sich heraus; naturgemäß unter traumwandlerischer Vermeidung jedweden Einfühlungsverdachts.
Natürlich dürfen chorische Entäußerung, anti-identifikatorisches Sprechen und Großgruppen-Choreografie per se als sichere Vermeidung von falsch verstandener Anwaltschaft wie falsch verstandener Anklage und/oder Figurendenunziation gleichermaßen gelten; das liegt in der Natur der Inszenierungssache. Geschmälert wird die Wirksamkeit dieser Mittel im speziellen Fall dadurch allerdings noch lange nicht. Die Kippfigur zwischen Opfer- und Täterschaft, die Kristóf durch ihre strickt phänomenologische Betrachtung der Zwillinge im Überlebensmodus beständig in Bewegung hält, übersteht den Bühnentransport wirklich beispielhaft unbeschadet.
Überhaupt gelingt hier mal wieder ein Abend der denkwürdigen, dankenswert didaktikfrei im Raum stehenden Ambivalenzen. Denn Rasche exerziert ‚Das große Heft‘ wirklich dreieinhalb Stunden lang konsequent als (männliches) Militär- und Militanzdrama durch, sämtliche (bekanntermaßen vielgestaltigen) Konnotationen und kulturellen Codierungen inklusive.
In jedem Fall hat das Staatsschauspiel Dresden mit diesem ‚Großen Heft‘ nicht nur seine bei weitem formstärkste Inszenierung unter der neuen, letzten Herbst gestarteten Intendanz im Spielplan, sondern überhaupt eine, deren Konsequenz nicht leicht zu überbieten ist.“
Kristófs Kniff mit dem Zwillingspaar lässt einen furchtbaren, authentisch wirkenden Kriegskinderroman (aus den 1980er-Jahren) entstehen, der nun nicht zum ersten Mal auf die Theaterbühne kam. Ulrich Rasche nutzt in seiner Inszenierung am Dresdner Staatsschauspiel diesmal keine Laufbänder, sondern zwei geneigte Drehscheiben, die rotierend aneinander vorbei im Wechsel nach vorne bewegt sind oder nebeneinander laufen können (Bühne: Ulrich Rasche).
Zu Beginn schleichen katzengleich, aber im Gleichschritt zwei Darsteller, noch mit Schuhen (Kostüme: Romy Springsguth) über die sich beständig drehende Laufscheibe. Nach und nach kommen weitere Brüderpaare hinzu; bis zu acht dauerlaufende Sprecher pro Drehscheibe, insgesamt also bis zu 16 männliche Darsteller rotieren über dreieinhalb Stunden durch den Roman.
Für Lauf und skandierendes Sprechen liefern vier Musiker am Bühnenportal (Drums: Heiko Jung, E-Bass: Slowey Thomsen, Violine: Kseniya Trusava und Cello: Christopher Uschner, Komposition: Monika Roscher) Rhythmus und gleichsam auf der Stelle tretende Melodien (die an die Musik von Peter-Greenway-Filmen erinnern). An besonders dramatischen Momenten werden Chorpartien aus Mozarts ‚Requiem‘ dazugemischt. Das Sprachspiel wird somit durch Rhythmus in Bild und Ton beherrscht. Das Ergebnis ist eine eigenwillige Mischung aus Nüchternheit und Pathos; einerseits sprechen die Akteure ganz sachlich und einfach, andererseits herrscht in der Aufführung von Anfang an ein hoher Druck an sprachlicher Intensität. Pathos und Kälte stehen – wie im Roman – ungewöhnlich eng beieinander.
Ein anderer produktiver und faszinierender Widerspruch in dieser Inszenierung ist die Konzentration auf das erzählende Wort bei gleichzeitiger physischer Dauerbewegung: Ohne je in Gefahr von bloßer Illustration zu kommen, ermöglicht, ja erfordert Rasches (in jeder Beziehung) episches Theater das chronologische Nacherzählen der Textvorlage.
Die Art der Romaninszenierung bleibt nah am Geist des Textes, füllt ihn mit Leben und performativer Intensität, aber versucht keinerlei Dekonstruktion oder Aktualisierung. Rasches Zugriff, der den Schauspielern keinen Raum für persönliche Profilierung lässt, ist zugleich selbstbewusst und dabei ungewöhnlich nah an der Textvorlage. Auch darin, dass Humor oder gar ein Augenzwinkern in Richtung Publikum hier nicht den Hauch einer Chance haben.
Zwar nutzt die Regie kunstvoll viele Mittel der bewegungschoreographischen und sprachmusikalischen Variation zwischen Solo und Massenszene, und doch dreht sich die Theatermaschine – und das ist eine kleine Einschränkung bei allem Lob dieser nahezu idealen Inszenierung – einebnend gleichmäßig. Insgesamt müssen einem die Sprech- und Gehmaschinen der Inszenierung zwar nicht gefallen, als Denkanstoß sind sie jedoch fraglos grandios. ‚Das große Heft‘ am Dresdner Staatsschauspiel ist ein großer Abend für alle, die noch nicht gänzlich gefühlskalt geworden sind.“
Kristófs atmosphärisch schwer auszuhaltender Kriegsroman handelt von der Flucht in die Gleichgültigkeit, die den einzigen Ausweg bietet, um das Grauen des Krieges zu überstehen, nicht irrezuwerden an den zuckenden Bildern im Kopf. Nur wenn Worte nichts weiter bedeuten als stumpfe Tatsachen, schafft man es, seine Seele zu schützen. Diesen Grundimpuls hat Ulrich Rasche in seiner Dresdner Inszenierung aufgenommen und auf unerbittliche Weise verstärkt.
Kristófs einfacher, elliptischer Stil wird durch die chorische Hypostase in jedem Falle stark stilisiert. Jedes noch so harmlose Wort – ob Gummistiefel, Bleistift oder Ziegenmilch – klingt hier wie ein unheilvolles Teufelskeuchen. Der einfache Ton des Originals verliert in Rasches Adaption gewissermaßen seine Unschuld und wird zur bedeutungsvollen Prophezeiung umgewandelt. Und doch kann man sich der totalitären Monotonie, mit der man hier konfrontiert wird, nicht einfach entziehen. So streng wird auf den ausdruckslosen Gleichklang geachtet, dass es schon auffällt, wenn hier einer aus Versehen mit den Augen zwinkert. Nur ein einziger unsicherer Schritt wird gemacht, ganz am Ende, wenn die Zwillinge auseinandergehen und ein Fuß sich von einer drehenden Scheibe auf die andere setzt. Ansonsten ist alles bis ins Letzte durchchoreographiert. Der Abend bedeutet eine enorme Anstrengung für Schauspieler und Zuschauer – das immer gleiche Bild der sich drehenden, sich leicht hebenden und senkenden Scheibe, von den sechzehn jungen Schauspielern ständig in geringfügigen Varianten bestiegen, stellt die Auffassungsgabe auf eine marternde Probe.
Das Ganze wirkt wie eine nie enden wollende Horror-Parade, die stolz immer neue Spielarten der Gewalt präsentiert: Ein Offizier lässt sich blutig peitschen, eine Mutter mit Baby auf dem Arm wird von einer Granate zerfetzt. Die Brutalität lässt sich immer noch steigern. Jeder Exzess kennt eine weitere Stufe der Eskalation. Dieses Grundgefühl schafft Ulrich Rasche mit seiner martialischen Inszenierung. Es ist nicht das erste Mal, dass der an Einar Schleef und Robert Wilson geschulte Regisseur und Bühnenbildner so inszeniert. Wieder und wieder arbeitet er mit denselben Stilmitteln: Drehbühne, chorisches Sprechen, Live-Musik. Einfallslos, könnte man sagen. Aber weil sonst am Theater eben im Moment so wenig konsequenter Wille zur Form erkennbar ist, überrascht und verstört Rasches radikale Bühnensprache. Seinen Basler ‚Woyzeck‘ (F.A.Z. vom 18. September 2017) kann man in diesem Jahr beim Berliner Theatertreffen sehen. Aber auch zu seinem ‚Großen Heft‘ nach Dresden sollte man unbedingt fahren.“
Die Scheibe, die anfangs der Boden der barbarischen Tatsachen bildete, pendelt auf der Drehbühne weg, die eine zweite zirkulierende Scheibe nach vorn transportiert. Diese Bühne ist noch steiler, und auch bei ihr wird die Symbolik klar: Sie steht für die Unausweichlichkeit der äußeren Umstände, die Unverfügbarkeit der Gesamtsituation. Wer nicht marschiert, wird mitgerissen, geht über den Rand verloren. Weil diese Scheiben sich ihrerseits in der Grundausrichtung drehen lassen, wird eine vielfältige Bühne möglich, wo mal eine, mal beide Scheiben als Spielflächen zur Verfügung stehen. Wechselndes Licht, mal als Spot von oben, mal diffus von der Seite kommend, und ein bisschen Nebel, mehr braucht Rasche nicht für visuell imposante Setzungen.
Genaugenommen ist es ein einfacher chorischer Effekt – und von Rasche ja auch bestens erprobt –, aber in der Konsequenz der Zeitdauer und des immer barbarischer werdenden Geschehens verblasst er nicht. Im Gegenteil, die Inszenierung nimmt nach der Pause an Wirkmächtigkeit zu. Eindimensional, aber eindringlich, monoton, aber intensiv und bildlich beeindruckend ist der Abend. Wobei es recht schwierig ist, nicht im Rhythmus des sehr genau arbeitenden Chores weggetragen zu werden und dem Wortstakkato nicht mehr zu folgen. Anstrengung und Überforderung sind dem Thema angemessen einkalkuliert.“
Den Takt für Schritt und Sprache gibt die repetitive Musik von Monika Roscher vor, die mit reduziertem Material gekonnt eine düstere Stimmung erzeugt und den Abend in die Nähe des Musiktheaters rückt.
Die Produktion ‚Das große Heft‘ verlangt Ausdauer vom Publikum, das sich trotz aller Bewegung mit einem letztlich statischen Theaterabend konfrontiert sieht. Aber es mangelt an nichts: Musik, Licht, Bühne und Schauspiel greifen perfekt ineinander. Und vor allem in den Text, der in Ulrich Rasches Ästhetik sogar an Intensität gewinnt. Es ist ein langer Theaterabend am Dresdner Staatsschauspiel, doch der Zuschauer bereut kaum eine Minute dieser – auch fordernden – vier Stunden.“
Das Bild ist treffend und enorm suggestiv, zumal auf der ansonsten leeren Bühne zusätzliche Scheinwerfer für düstere Lichtstimmungen sorgen.
Eine enorme physische und stimmliche Leistung der Spieler.“
Der gleichnamige Roman von Ágota Kristóf erschien vor mehr als dreißig Jahren, aber noch immer liest er sich als packendes Dokument, das aus der Zeit gefallen ist. Kurze, kalte, kahle Sätze. Jegliche Zier fortgeschmirgelt. Keine psychologische Füllung.
Der Takt der Schritte trifft auf den Takt der Sprache. Auf Sätze, die rhythmisch mit Pausen gespickt sind. Auf Worte, die die Spieler hervorpressen, über Kopfmikros in den Saal hämmern. Die Sprache vermischt sich mit der düsteren Komposition von Monika Roscher. Es ist, als träfe Rammstein auf Steve Reich: archaischer Minimalismus. Ein Sog der Wiederholungen, gespielt mit Schlagzeug, Violine, Cello und Bass von vier Musikern am Bühnenrand.
Seine Sogkraft ist letztlich das, was den gesamten Abend ausmacht: ‚Das große Heft‘ sticht deutlich hervor aus allen anderen Inszenierungen, die man derzeit am Staatsschauspiel sehen kann. Selbst wer zwischendurch abschweifen sollte, findet bald ins Geschehen zurück. Im unablässigen Gleichstrom setzt Rasche regelmäßig Reizpunkte. Das Licht gleißt, dann verschluckt das Dunkel die Spieler. Die Musik bricht plötzlich ab, fährt neu und wieder anders fort. Es drehen sich nicht nur die Spielflächen, auch die gesamte Konstruktion rotiert, man sieht die Gerüste, die Gemachtheit des Ganzen. Spieler kommen und gehen, barfuß oder in schwarzen Schuhen. Sie legen ihre dunklen Shirts ab, wenn die Zwillinge barsch die Sexualität entdecken. Die freien Oberkörper erscheinen auf einer halbtransparenten Wand zwischen Spielern und Zuschauern. Der Chor spaltet sich, die Hälften sprechen perfekt mit- und gegeneinander.
Soll man sich dieses malmende Totalkunstwerk antun? Ja, unbedingt.“
Umwelt formt den Menschen – und die beiden Jungen schildern ihre Erlebnisse, ihren Lebenslauf, auf einer rotierenden Erdscheibe meist ohne Fortschritt trabend, im Silbenstakkato einer eigenen Sprachform: um Fehler zu vermeiden, ganz und gar gefühllos. Gemeinsam mit der Minimalmusik, die fast immer nur per Rhythmus den Takt vorgibt und sich selten in zarte Melodieanflüge ergießt, entsteht rasch eine tranceähnliche Stimmung und daraus ein kriegsdüsteres Requiem der Verwahrlosung und Verrohung. Dabei wird Ágota Kristófs Werk auf die reine Sicht der Zwillinge reduziert, alle andere Figuren werden von ihnen im Dialog gedoubelt – anfangs und später immer wieder von Moritz Kienemann und Johannes Nussbaum gegeben, aber rasch von sieben anderen ersetzt, ergänzt, gedoppelt. Sieben junge Ensembleschauspieler, dazu fünf Studenten und vier andere Gastspieler – alle unter 30 Jahre – bilden die Gespanne, die immer wieder wechseln, aber vor allem in verschiedensten Chorkonstellationen lautstark brillieren.
Rasche, der auch gern Laufbänder oder Walzen zur Schauspielerbewegung agieren lässt, hat mit HfBK-Absolventin Sabine Mäder als Bühnenbildnerin und der gebürtigen Karl-Marx-Städterin Romy Springsguth als Kostümbildnerin sowie den Chorleitern Alexander Weise und Toni Jessen bewährte Kräfte an seiner Seite. Bei der Komposition setzt er auf Monika Roscher, die ihm schon seinen Baseler ‚Woyzeck‘ untermalte. Sie liefert einen düster-rhythmischen Stücksoundtrack. Der ist angepasst an die beiden gleichmäßig drehenden und schräg stehenden Riesenscheiben als alleinige Spielfläche.
Musikerquartett und zehnköpfiges Regieteam bilden eine biografisch spannende Ost-West-Combo mit gediegener Ausbildung an allen guten wie näherliegenden Kunsthochschulen ab. Es wäre keine großartige Weissagung, dass diese Arbeitsbeziehung, durchaus als gelungene Bewerbung für die Theatertreffen in Dresden 2018 und Berlin 2019 zu werten, nachhaltig geraten dürfte. Und dabei – das ist wohl Rasches Hauptverdienst und akut recht selten im deutschen Regietheater – die Wirkung des Originals nicht beschädigt, sondern eher bestärkt.“
Nicht der Einzelne zählt, nur die Masse. Unheimlich ist das, düster, mitunter bedrohlich, dabei von eigenartiger Faszination.
Rasches Inszenierung ist ein Gesamtkunstwerk aus Spiel, Bildern und Rhythmus, das zu erschüttern weiß. Man sollte unbedingt Verträge für weitere Stücke mit dem Regisseur machen.“
Ulrich Rasches Regiestil mit den erbarmungslos vor sich hin ratternden Maschinen und den verzweifelt kämpfenden, schwitzenden Menschen, die sich dagegen so klein ausnehmen, passt hervorragend zu den düsteren, knappen Sätzen aus Ágota Kristófs dystopischem Roman über Zwillinge im Krieg.“
Fast vier Stunden Beschreibung des Unbeschreibbaren. Stumpf und stier und grauenhaft. Vielleicht zu vergleichen mit Elem Klimows grandios unerträglichem Film ‚Komm und sieh‘: Vergreisung eines russischen Jungen, der den Krieg erblickt.
Dieser Abend ist eine Zumutung. Ohrstöpsel werden am Eingang verteilt. Die E-Gitarrenbässe schlagen peitschenhart zu (Musik: Monika Roscher). Die sechzehn jungen Schauspieler auf den zwei sich drehenden, hebenden, senkenden Scheiben präsentieren, nebelumwölkt, ein Martyrium des Chorischen. Himmelschreiend laut. Dann sehr, sehr leise. Mit einer sekündlich abgestimmten Präzision (Chorleitung: Alexander Weise, Toni Jessen). Es ist, als solle Publikums Haut mit jedem einzelnen Wort durchlässig geschlagen und dann gegerbt werden.
Rasche koppelt den entsetzlichen Realismus der Schilderungen mit frappanten Lichtwechseln und bewusstem Einblick in seine Apparatur.
Des Regisseurs radikaler Maschinismus macht Furore. Im vergangenen Jahr konnten seine Münchner ‚Räuber‘ nicht beim Theatertreffen gezeigt werden – Technik sprengte Bühnenmaße. Beim diesjährigen Festival im Mai zeigt er seinen Baseler ‚Woyzeck‘, danach wird er bei den Salzburger Festspielen inszenieren. Die Rasche-Mittel werden gewiss irgendwann ihren Abrieb, ihren Verschleiß offenbaren. Das mag morgen schon geschehen, aber das Morgen sei den Prognostikern im Politikbetrieb überlassen, die immer so eifrig spekulativ in ihrer Phrase Zukunft zappeln. Theater ist das Jetzt, und im Moment hat diese Ästhetik des 49-jährigen Regisseurs eine geradezu niederschmetternd gültige Energie. Ist messerscharfer Ausdruck im grassierend Konturlosen. Rasches Aufführungen wirken ein Jahrhundert nach Ernst Tollers ‚Masse Mensch‘ und dessen ‚Maschinenstürmern‘ wie die bittere Bilanz all der falschen, weil so gefährlichen Erwartungen ins zündend Kollektive. Die Verhältnisse tanzen nicht, aber alles stampft; zerstampft und weggetreten wird auf den Metallflächen dieses Theaters auch der fade Popanz des bürgerlichen Individualismus.
Dresden bietet unerträgliches, sehenswertes Theater der Verzweiflung. Das Schreckbildermalen kann religiöser sein als der gleichgültige Glaube ans Gute. Auch Schonungslosigkeit ist Arbeit an der Würde.“
Aus der französischen Übersetzung von Eva Moldenhauer destilliert sich Rasche gemeinsam mit dem Chorleiter Alexander Weise in bewährter Weise eine eigene Spielfassung – direkt aus dem Heft, in dem die selbstlernenden und gottlosen Jungs ihre Erlebnisse in der ihnen eigenen Sprache, also ohne jede Gefühlswelt zitieren, und als gleichförmiges kraftvolles Stakkato vortragen.
Moritz Kienemann als neues Ensemblemitglied, der schon in Heins IN SEINER FRÜHEN KINDHEIT EIN GARTEN überzeugte, und Johannes Nussbaum als gastierender Student, sind die tragenden Spieler, werden im Laufe des langen, packenden Abends immer wieder von sieben anderen Zwillingspärchen ersetzt oder ergänzt. Insgesamt sieben junge Herren des Ensembles, dazu fünf Studenten und vier andere Gastspieler – acht Paare, die ständig in Bewegung ihre Befindlichkeit laut und simpel artikulieren.
Ein wuchtiges Werk, welches auf Empfehlung des Hauses auch mit Ohrstöpseln genossen werden kann. Dabei spiegelt sich der monoton stapfend Zeitgeist im Stiefelmarschrhythmus in einer tranceartigen Minimalmusik, komponiert von Monika Roscher, die Rasche schon dessen Baseler ‚Woyzeck‘ untermalte. Auch mit Bühnenbildnerin Sabine Mäder, Kostümbildnerin Romy Springsguth sowie den beiden Chorleitern Alexander Weise und Ton Jessen arbeitet er oft zusammen. Einen guten Teil des bleibenden Eindrucks liefert Videoartist Philip Bußmann mit zwei Liveübertragungen der trabenden nackten Oberkörper nach der Pause.
Ein Tipp: Unbedingt Programmheft lesen – und wenn es vorher gelingt, schmälert es keineswegs das Erlebnis, welches man ob des Gebotenen nicht als Genuss bezeichnen mag, weil alles Sanfte und Seichte fehlt. Aber vielleicht serviert Rasches zehnköpfiges Regieteam, welches vier Livemusiker und 16 wehrfähige Jünglinge zu einem kollektiven, fast vierstündigen Parforceritt vereint und treibt, einen Warnschuss zur rechten Zeit.“
Ulrich Rasches Konzept, das chorische Theater der Antike wiederzubeleben, funktioniert auch in Dresden. Auf zwei rotierenden Scheiben sind die Zwillinge immer in Bewegung, müssen laufen, um nicht herunterzufallen, ein grandioses Bild.“
Heftig und intensiv, aufwühlend, beklemmend, bebend, fesselnd, faszinierend, verstörend und erschütternd treffen die Schönheit, Poesie und Gewalt von Sprache, rhythmisch starkes, eindringliches chorisches Theater und kraftvoll sinnliches Körpertheater aufeinander, begleitet von spannungsvollen, auf und ab schwellenden, sanften und harten Klängen auf Cello, Geige, Bass und Drums von Musikern vor und auf der Bühne.
Viel Beifall und Bravos für einen einige Überwindung kostenden, jedoch reichlich bewegenden Theaterabend, den man nicht so schnell vergisst.“