Uraufführung 09.10.2009 › Kleines Haus 2

Vùng biên gió’i – Ein Theaterprojekt mit Experten aus Dresden und Prag

In Zusammenarbeit von Staatsschauspiel Dresden, Zipp – deutsch-tschechische Kulturprojekte (eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes), Prager Theaterfestival deutscher Sprache und Nationaltheater Prag
Auf dem Bild: Cao The Hung, Nguyen Hung Son, Nguyen Van Loi, Karl-Heinz Kathert
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Karl-Heinz Kathert, Pham Thanh Van
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Pham Thanh Van, Do Thu Trang, Pham Anh Thu
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Karl-Heinz Kathert, Phung Hang Thanh, Do Thu Trang, Nguyen Van Loi
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Nguyen Van Loi, Cao The Hung
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Karl-Heinz Kathert, Do Thu Trang
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Karl-Heinz Kathert, Do Thu Trang, Cao The Hung, Pham Anh Thu
Foto: Matthias Horn

Handlung

Zwischen Dresden und Prag liegt Vietnam
Eine Annäherung auf Umwegen
von Rimini Protokoll

Im Frühjahr 2008 brach Rimini Protokoll auf, um sich mit dem Nachbarschaftsverhältnis zwischen Deutschland und Tschechien zu befassen – an der deutsch-tschechischen Grenze fanden sie schließlich tatsächlich etwas, das beide Länder verbinden könnte. Hinter Armeen von Gartenzwergen, mauerhohen CD-Stapeln mit Raubkopien und säckeweise gefakter Markenkleidung hoffen vietnamesische Händler heute auf ihr Glück. Sie kamen aus dem asiatischen Bruderland nach Tschechien und in die DDR als Vertragsarbeiter und Auszubildende zu einer Zeit, als die nun verwaiste Grenzstation noch schwer überwindbar war. Jetzt bilden sie sowohl in Dresden als auch in Prag die stärkste Migrantengruppe.
„Preise hart an der Grenze“ wirbt ein Schild für die ausgelegten Waren, die rituell zweimal in der Woche vom Zoll beschlagnahmt und anschließend verbrannt werden. Am nächsten Tag helfen Töchter und Söhne dabei, den Nachschub nachgemachter US-Uniformen aus den Kisten auf den Ladentisch zu packen. Aber während ihre Eltern gebrochen „billig, billig“ rufen, haben sie sich bereits ganz andere Territorien erobert: Sie studieren, reisen, beherrschen Sprachen und füttern die Suchmaschinen mit ihren eigenen Statusfragen nach Heimat und Zugehörigkeit.
Im Zentrum des Projekts steht das Vorhaben, einen Theaterabend zu entwickeln, der für Theaterbesucher in Prag und Dresden gleichermaßen Relevanz hat, da das jeweils eigene Nachdenken über die vermeintlich eigene Heimat und die europäischen Nachbarn durch den Blick auf eine dritte Gruppe auch eine weitere, dringend notwendige Perspektive gewinnt.
Wir gehen davon aus, dass das Theater ein ganz besonderer Umschlagplatz für die Lebensperspektiven Einzelner ist: schneller, offener, direkter und ehrlicher als irgendeine andere Kunstform. Hier betritt der Einzelfall die Bühne, denn nur er hat die Kraft, gesellschaftliche Standards und eingefahrene Klischees zu brechen oder völlig aufzulösen. Ins Zentrum der Theaterarbeit stellt Rimini Protokoll daher einzelne Menschen mit ihren Biografien und Berufen. Und bezeichnet diese, ihrer Erfahrungen und Eigenarten wegen, als Experten: Experten des Alltags, Experten für das Leben, das sie führen. Und schließlich Experten darin, dem Theater fremd zu sein. Auch Rimini Protokoll geht von einer Fremdheitserfahrung aus und wagt sich auf Felder vor, von denen es zunächst möglichst wenig versteht. Das Theater wird damit selbst zum Forschungsinstrument, das erst in der Bühnenöffentlichkeit zum Einsatz kommt.

Besetzung

Regie
Rimini Protokoll
Bühne
Simeon Meier
Mitarbeit Bühne
Marc Jungreithmeier
Recherche
Sebastian Brünger, Karolína Svobodová
Musik
Michael Weishaupt
Licht
Marc Jungreithmeier, Rolf Pazek
Dramaturgie
Sebastian Brünger
Mit
Pham Thanh Van, Pham Anh Thu, Do Thu Trang, Cao The Hung, Phung Hang Thanh, Nguyen Van Loi, Nguyen Hung Son, Karl-Heinz Kathert

Über das Stück

Ein Stück über die Grenze

Experten des Alltags
Ein Recherchetagebuch von Rimini Protokoll
10:00: Ankunft Dresden Hauptbahnhof. Startpunkt der Suche nach den deutsch-tschechischen Beziehungen. Mit dabei: ein ganzer Rucksack voll Klischees und Vorurteile. Der Kundenberater der Autovermietung, ein kleiner Mann mit Schnurrbart, schüttelt bedauernd den Kopf: Trotz des EU-Beitritts Tschechiens gelte Reisefreiheit noch nicht für deutsche Markenautos. Im nichtdeutschen Markenauto auf die b 172 Richtung Pirna hinter uns taucht die Kulisse Dresdens mit der wiederaufgebauten Frauenkirche ab.
10:30: Dresden, Leubnitz. Zwischenstopp am Stadtrand von Dresden. Das Klischee hat eine Realität: Plattenbausiedlung, Gartenzwerge und Leubnitz-Treff, ein Einkaufszentrum. Die riesige Auslage der Bäckerei hat nicht mehr als ein paar verlorene Brote und ein Dutzend trockener Brötchen zu bieten. Die ältere Verkäuferin entschuldigt sich: Die Dresdner fahren samstags lieber ins benachbarte Petrovice zum Einkaufen. Das mache sie selbst auch gleich, weil viele Produkte dort gerade einmal die Hälfte kosten. Früher seien die Tschechen immer nach Deutschland gekommen, weil es in der DDR die besseren Produkte gab. Heute kämen gar keine Tschechen mehr zum Einkaufen herüber.
11:00: Bei Pirna. Das erste tschechische Nummernschild vor uns an der roten Ampel. An der Straße stehen Trabis mit Plakaten, auf denen lachende FDJler den Weg zum DDR-Museum Pirna weisen. Nachdem Dresden so ein Erfolg war, prangt jetzt auf großen Flächen die Werbung für das nächste ZDF-Geschichtsdrama: Gustloff. Hinter Pirna wird es hügeliger. Große Wälder säumen die Straßen; in der Ferne der Königstein; ganz nah: eine Dynamo-Dresden-Fan-Tankstelle, komplett in Schwarz-Gelb.
13:00: Grenzübergang Deutschland-Tschechien. Die seit knapp zehn Wochen verwaiste Grenzstation rostet in ihren braunen 70er-Jahre-Tönen vor sich hin. Für 20 Euro bekommt man hier 240 tschechische Kronen. Der Angestellte erzählt, dass am Wochenende insbesondere holländische Touristen einfallen. Während der Woche ziehen die Tschechen nach Deutschland zur Arbeit. Ein Schild über einem Hauseingang: Preise hart an der Grenze, darunter trägt gerade eine Familie zwei Paletten Kaffee heraus. Sie kaufen hier jeden Samstag ein, es ist einfach superbillig.
13:10: Hrensko, Vietnamesischer Markt. Hinter der Grenze begann das Paradies der Markenprodukte zu kleinen Preisen, jetzt, wenige Meter weiter, winkt das Paradies der Plagiate. Auf dem Parkplatz ausschließlich deutsche Markenautos mit deutschen Kennzeichen an den Straßen ausschließlich Bretterbuden und unter Plastikplanen und Wellblechdächern überall dasselbe Angebot: gebrannte CDs, DVDs, Unterwäsche, bedruckte T-Shirts (auch mit Konterfeis von Neonazi-Bands), gefakte Markenklamotten und Zigaretten. Und: Gartenzwerge, Gartenzwerge ganze Armeen stehen aufgereiht am Straßenrand. Vor jedem Stand fordern Vietnamesen mit einer Mischung aus deutschen und tschechischen Wörtern zum Stehenbleiben auf. Während sich von diversen Ständen deutschsprachige Techno- und Schlagermusik zu einer rhythmischen Heimatgroteske vermischen, schreit die Straßenschlucht zwischen den steil aufragenden Bergen stumm vor grellem Kitsch und Kopien. Ein Mann hinter uns ruft Kontrola, und alle Vietnamesen zucken in ihren Bretterbuden kurz zusammen. Der Mann lacht. Er heißt Dieter, kommt aus Bochum und lebt seit 14 Jahren in einem Dorf in der Nähe von Hrensko. Seinem Kumpel gehöre die Straße, in der die Vietnamesen ihre Stände anmieten. Mit der Vermietung der Parzellen verdiene der 35.000 Euro im Monat.
Die Vietnamesen wohnen in der Umgebung und kommen täglich in die Stadt, die gerade mal 160 reguläre Einwohner zählt. Zweimal in der Woche komme die Kontrola, dann beschlagnahme der Zoll alle Fälschungen und Raubkopien, also fast die ganze Auslage. Dieter erzählt, die Sachen würden alle verbrannt. Aber einen Tag später seien alle Buden wieder gefüllt.
14:30: Auf dem Weg nach Ústí. Die Hinweisschilder Autobazar häufen sich. Deutsche und andere Markenautos werden angeboten. Die Tankstellen werden auf Verkehrsschildern als lpgs ausgewiesen. In einzelnen wild wuchernden Gärten stehen mit Straßenstaub bedeckte Gartenzwerge.
15:00: Ústí. Eine Stadt als Mischung zwischen bröckelndem 70er-Jahre-Barock und herbem Industriecharme. Es würde nicht überraschen, wenn hinter der nächsten Kirche ein Großkraftwerk in der Fußgängerzone stünde. Im Hotel Bohemia, einem hellblauen Kasten, spricht man Deutsch, zögerlich, aber gut. Viele Gäste scheinen hier nicht mehr einzukehren, an der Hotelbar muss der Angestellte den Kaffee suchen. Wir sind jetzt genau in der Mitte zwischen Dresden und Prag.
17:00: Prag. Der nichtdeutsche Markenwagen wird direkt am Bühneneingang der Laterna Magica geparkt, die wir von unserem letzten Kapital-Gastspiel her kennen. Heute steht Cyrano de Bergerac auf dem Spielplan. Gegenüber: zweimal Touristen-Knödel.
20:00: Auf dem Rückweg. Das Dorf Dubí. Rio Relax, Cleopatra, Cobra, Marylin: rote Herzen, schrille Lichterketten. Wenige Autos sind hier mitten im böhmischen Mittelgebirge unterwegs, und nur ab und zu huschen die Schemen von Häusern in der Dunkelheit vorbei. Umso bizarrer die Inszenierung der Prostituierten am Straßenrand. Inmitten dieser kalten und unheimlichen Blackbox des Erzgebirges versuchen sie, vom Scheinwerferlicht geblendet, ihr mit 70 km/h vorbeifahrendes Publikum für sich zu gewinnen. In der kleinen Stadt Dubí findet dieses triste Straßentheater des Alltags seine längste Bühne. Die Durchgangsstraße ist gesäumt von grünen, roten und gelben Schaufenstern, in denen sich nun mehrere Frauen gleichzeitig bewegen. Auf der Straße: deutsche Markenwagen mit deutschen Kennzeichen. Am Ortseingang und -ausgang ermöglichen Kreisverkehrsinseln das problemlose Wenden.
21:00: Tankstellenkreuz an der Grenze. Am letzten Kreisverkehr, bevor es Richtung deutsche Grenze geht, zählen wir fünf Tankstellen und drei Casinos. Direkt vor der Grenze, oder vielleicht schon im Niemandsland dazwischen, zwischen den Grenzen: Erzgebirgsschnitzereien und Räuchermännchen in neonhell ausgeleuchteten Basaren mitten im Wald. Und wieder Armeen von Gartenzwergen, die uns unheimlich angrinsen. Wir sind uns nicht mehr sicher, ob der Gartenzwerg eigentlich deutsch oder tschechisch ist. Jedenfalls kommt er schon seit Längerem aus vietnamesischer Produktion. Heute sind wir nur gefahren, haben nicht geklingelt und nicht telefoniert. Wir müssen noch einmal wiederkommen. Oder gleich nach Vietnam fahren.

Dieser Text von Rimini Protokoll erschien im Magazin von Zipp deutsch-tschechische Kulturprojekte.
Weitere Informationen unter www.projekt-zipp.de