Uraufführung 06.10.2012 › Schauspielhaus

Was tun

Schauspiel von Lutz Hübner
Mitarbeit: Sarah Nemitz
Auf dem Bild: Albrecht Goette, Hannelore Koch
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Holger Hübner, Anna-Katharina Muck, Tom Quaas, Karina Plachetka
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Albrecht Goette, Hannelore Koch, Christian Erdmann, Holger Hübner
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Holger Hübner, Christian Erdmann
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Holger Hübner, Anna-Katharina Muck
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Hannelore Koch, Albrecht Goette, Benjamin Pauquet
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Sven Kaiser
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Christian Erdmann, Holger Hübner
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Hannelore Koch, Albrecht Goette, Ines Marie Westernströer, Benjamin Pauquet
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Hannelore Koch, Holger Hübner, Benjamin Pauquet
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Anna-Katharina Muck, Hannelore Koch
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Christian Erdmann, Karina Plachetka
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Karina Plachetka, Tom Quaas, Christian Erdmann
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Christian Erdmann, Karina Plachetka
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Christian Erdmann, Karina Plachetka, Tom Quaas
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Karina Plachetka, Holger Hübner, Christian Erdmann, Tom Quaas
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Ensemble
Foto: Matthias Horn

Handlung

An einem gewöhnlichen Samstagabend kommt es zu Begegnungen zwischen Fremden und Freunden: Ein Ehepaar lädt Bekannte zum Wein, eine Mäzenin empfängt die Gäste ihrer exklusiven Soirée, und eine Pressekonferenz anlässlich eines Pflegeskandals im Altenheim wird anberaumt.
Diese zunächst völlig alltäglichen Situationen geraten auf die eine oder andere Weise gänzlich aus dem Ruder. Eine harmlose Konversation schlägt um und wird zum Konflikt: Die Gastgeberin des weinseligen Abends zu viert stellt auf einmal ihre Ehe infrage, weil das Gespräch über erotische Spielarten und die individuelle Freiheit zu viel Unausgesprochenes offenlegt. Der erfolglose Schauspieler, der eben noch auf der Soirée Gedichte rezitierte, wird derart gedemütigt, dass er flieht, um in der nächtlichen Stadt ein Abenteuer zu suchen. Die couragierte ­Altenpflegerin, die einen Skandal an die Öffentlichkeit bringen will, wartet vergeblich auf die Presse und lässt sich schließlich überzeugen, auf eigene Faust ihr Recht einzufordern.
Lutz Hübners neues Stück erzählt von den Momenten im Leben, in denen alles schief läuft und es einfach nicht gelingen will, rechtzeitig die Notbremse zu ziehen. Seine Figuren streiten und trinken, straucheln und hoffen – in den Stunden zwischen Tag und Traum begegnen sie einander in immer neuen Konstellationen, aus denen wieder neue Geschichten entstehen.

Besetzung

Regie
Barbara Bürk
Bühne
Anke Grot
Kostüme
Irène Favre de Lucascaz
Musik
Dramaturgie
Luise Mundhenke
Gerald, Personalschef, verheiratet mit Monika
Monika, Hausfrau
Andreas, Augenarzt
Tom Quaas
Judith, Reisekauffrau
Sibylla, Mäzenin, verheiratet mit Edgar
Edgar, Richter i.R.
Richard, Journalist
Hanno, Sprecher
Christian Erdmann
Bine, Altenpflegerin, Mutter von Tim
Tim, Schreiner
Benjamin Pauquet
Karl, Gewerkschafter i.R.
Luise, Praktikantin
Ines Marie Westernströer
Der Musiker
Ein Passant
Thomas Mende / Andreas-Christoph Müller

Lügen, lügen, lügen

Über Momente der Wahrheit im Drama und im echten Leben
von Lutz Hübner
EINS „Es gibt im Leben eine Zeit, wo es sich auffallend verlangsamt, als zögerte es weiterzugehen oder wollte seine Richtung ändern. Es mag sein, dass einem in dieser Zeit leichter ein Unglück zustößt.“ Robert Musil

ZWEI Es gibt Texte oder Textpassagen, die man liest, mit einem Kopfnicken quittiert und dann vergisst. Andere kommen einem irgendwann noch einmal in den Sinn, halb erinnert, „sinngemäß“, wie man so schön sagt, und dann kompostieren sie in dem ganzen Halbwissen und ungenau Gewussten, das man so in sich anhäuft. Einige wenige aber sind so einprägsam, dass man sich genau an sie erinnert oder sie zumindest immer wieder nachschlägt.
Texte, um die man kreist, als wären sie ein Lebensmotto oder ein Grundbass, etwa so, wie in alten Zeiten Bibelzitate Wegmarken und Leitplanken des Lebensweges sein konnten. Die obige Passage aus Musils „Drei Frauen“ gehört dazu, weil sie einerseits vollkommen klar ist, andererseits etwas nicht ganz zu Enträtselndes beschreibt, einen Moment, den jeder kennt, den biografischen Punkt, der keine Katastrophe ist, der sie aber als Möglichkeit enthält: An dieser Stelle könnte mein Leben scheitern. Jetzt fehlt nicht viel und ich kann alles, was mich bisher sicher durchs Leben geführt hat, über Bord werfen, jetzt verliere ich das, was man früher durch das schöne Wort „Seelenheil“ ausgedrückt hat.
Letztlich landet alles, was einen als Autor beschäftigt, früher oder später in einem Theaterstück, und so waren Musils Zeilen der Ausgangspunkt für „Was tun“. Es hat mich interessiert, eine Anzahl Geschichten zu erfinden, in denen Menschen den musilschen Moment erleben.

DREI Der musilsche Moment. Das ist nicht zwangsläufig einer, der mit Geburt, Tod, Krankheit, Untergang oder anderen beliebten Theaterthemen zu tun hat. Die Niederträchtigkeit besteht darin, dass dieser Moment oft banal ist – von außen betrachtet. Bei den „letzten Dingen“ ist man gewappnet, die Seele strafft sich, nimmt Haltung an und weiß, dass sie gleich böse zerzaust wird.
Der musilsche Moment ist einer, in dem man sich gerade noch eine Tasse Tee einschenken wollte, und der Hammer des Schicksals haut einem ohne Vorwarnung mit Schmackes in den entspannten Solarplexus. Tage, von denen man später sagt, da ist einfach alles schiefgegangen, aus dem Ruder gelaufen, Fehler auf Fehler, ganz unangemessen reagiert, die Lage falsch eingeschätzt, das wäre alles jederzeit noch zu retten gewesen, aber dann schaukelte sich das so hoch. Und plötzlich steht man allein in der Mitte des Raumes, alle Augen auf einen gerichtet, und was man da in den Gesichtern liest, ist Fassungslosigkeit, Entsetzen, Geringschätzung und Unverständnis. Stille.
Man denkt: Was zum Teufel mache ich hier? Wie bin ich hierher geraten?
Und dann lösen sich die Gewissheiten auf, dann versucht man die letzten Krümel Selbstachtung zusammenzukehren …

VIER Keine Geschichte, sondern Geschichten, die ineinandergreifen. Figuren, die auf Fremde treffen, deren Geschichten vorher erzählt wurden, eine Fülle von Situationen und Begegnungen, die zusammen einen Oberton zum Klingen bringen, etwas über Gesellschaft sagen (hoffentlich) oder zumindest über die Menschen, die an diesem Abend – denn es sind die Geschichten eines Samstagabends – versuchen, mit ihrem bröckelnden Leben klarzukommen, bei sich zu bleiben oder mit den Erkenntnissen zu leben, die der musilsche Moment in ihnen ausgelöst hat.

FÜNF Einer Altenpflegerin wurde fristlos gekündigt, weil sie die unzumutbaren Lebensbedingungen im Heim kritisiert hatte. Nun wartet sie zusammen mit einem altgedienten Gewerkschafter bei einer Pressekonferenz auf die Journalisten, die aber nicht kommen, weil die Einladungen nicht rechtzeitig verschickt wurden.
Oder ein Ehepaar, das bei einem befreundeten Paar rausfliegt, weil das Gespräch über Swingerclubs und Toleranz eine unheilvolle Wendung ins allzu Private genommen hat.
Ein ausgebrannter Schauspieler, der auf einer literarischen Soiree von einer überambitionierten Gastgeberin zur Gedichtrezitation genötigt wird und sich blamiert.
Aus den Startgeschichten ergeben sich neue Geschichten. Männer, die nicht wissen, wie man sich eine Prostituierte aufs Hotelzimmer bestellt. Söhne, die zur Selbstjustiz greifen, und Fremde, die zu Beichtvätern werden, denen man sein Leben erzählt in der Hoffnung auf ein Wort der Erlösung oder des Trostes. „The kindness of strangers“ war ein erster Arbeitstitel. Im Deutschen klingt das nicht, aber darum geht es auch, um Freundlichkeit und darum, dass manchmal nur eine fremde Umgebung, ein fremder Blick auf das eigene Leben hilft, die Spur wiederzufinden. Oder eine neue Spur. Eine Ent-Täuschung im Wortsinn, von einer Täuschung befreit werden. Denn auch das steckt in Musils finsterem Wort vom Unglück. Das Unglück, das auch einen Neuanfang oder eine ungewohnte Sicht auf das eigene Leben evozieren kann, da das Leben ja „seine Richtung ändern möchte“.

SECHS Viele Spielorte, ein Reigen, ein Karussell, ein Spiegelkabinett. Denn der musilsche Moment löst eine Fluchtbewegung aus, nur weg hier, weg hier. Was tun, wenn das Leben bedenklich in den Grundfesten knirscht: kämpfen oder fliehen? Wann sonst sollte man neue Wege betreten. Lob der Feigheit. Nein: Lob des strategischen Rückzugs, das klingt menschenfreundlicher.
Man muss nicht alles aushalten, man kann auch einfach mal abhauen, wenn es nicht mehr geht, und wiederkommen, wenn sich die Lage beruhigt hat, man kann auch mal den Bettel hinschmeißen und frisch gebadet in Selbstmitleid durch die Straßen ziehen, trotzige Entschlüsse fassen oder nach jemandem suchen, der einem sagt, dass alles so schlimm nun auch wieder nicht sei. Vielleicht fängt mit so einer Begegnung auch etwas Neues an.
„Aber es ist sicher, dass das Gehen und das Suchen und Begegnen zu den Geheimnissen des Eros gehören. Es ist sicher, dass wir auf unserem gewundenen Wege nicht bloß von unseren Taten nach vorwärts gestoßen werden, sondern immer gelockt von etwas, das scheinbar immer irgendwo auf uns wartet und immer verhüllt ist.“ Hugo von Hofmannsthal

SIEBEN Ein weiteres Bauprinzip des Stückes: Jede Figur lügt irgendwann einmal, und diese kleinen Lügen bringen Dinge wieder ins Lot, sorgen dafür, dass der musilsche Moment (zumindest für die meisten Figuren) vorbeigeht, dass ihr Leben wieder an Fahrt gewinnt und ein frischer Wind aufkommt. Lob der kleinen Lügen. Das ist nicht unbedingt ein Grundsatz, mit dem man seine Kinder erziehen sollte, aber einer, der manchmal hilfreich ist.
Es gibt viele wichtige und gute Stücke, die unbarmherzig die Verlogenheit des Menschen und der Gesellschaft anprangern, aber es ist vielleicht auch einmal nötig, dass der Pranger leer bleibt. Die Strafe bleibt aus, es ist kein Wetter für eine Hinrichtung, man ist völlig unverdient davongekommen, kocht sich eine Tasse Tee und wirft einen kurzen Blick zurück in den Abgrund, und dann geht das Leben weiter. Die Fähigkeit des Durchschnittsmenschen, große Momente zu ertragen, ist begrenzt, und auch darum geht es in dem Stück. Auch wer die ganze Nacht seinen Schöpfer verflucht hat, möchte morgens ein Frühstück. Oder mit einem Zitat von Willy Millowitsch gesprochen: „Irgendwann kommt für jeden der Moment der Wahrheit, und dann heißt es lügen, lügen, lügen.“

Lutz Hübner wurde 1964 in Heilbronn geboren. Er ist einer der meistgespielten deutschen Gegenwartsdramatiker. Bevor er 1994 begann, Stücke zu schreiben, arbeitete er als Schauspieler. Inzwischen sind über 30 Dramen von ihm erschienen und auf zahlreichen Bühnen im In- und Ausland zur Aufführung gekommen. Am Staatsschauspiel Dresden sind neben Thomas Birkmeirs Inszenierung von „Blütenträume“, einem Stück über das Leben und Lieben im Alter, bereits drei Uraufführungen von Hübner zu sehen: Die Klassenzimmerkomödie „Frau Müller muss weg“ (Regie: Barbara Bürk), „Die Firma dankt“ über die neue Arbeitswelt (Regie: Susanne Lietzow) und der musikalische Abend „Familienbande“, inszeniert von Franz Wittenbrink.